In den letzten 500 Jahren hat sich unsere Welt dramatischer gewandelt als in jeder vergleichbar langen Periode der menschlichen Geschichte. Massgeblich verantwortlich dafür ist eine einzige Kraft: die Entwicklung der Naturwissenschaften. In einem kurzen Zeitraum von nur wenigen hundert Jahren haben ihre Erkenntnisse das menschliche Leben und unsere Gesellschaft grundlegend verändert. Und weiterhin beeinflussen und formen sie unsere heutige Welt, und dies in immer stärkerem Ausmass. Längst ist aus dem Wunsch nach Verstehen ein Wille zur Gestaltung geworden, der uns auf eine rasante, immer schneller werdende Fahrt in eine immer stärker durch die Naturwissenschaften und den auf ihr aufbauenden Technologien geprägte Zukunft mitnimmt. So konnten in den letzten zehn bis 25 Jahren nahezu jede naturwissenschaftliche Disziplin ihren Erkenntnishorizont noch einmal dramatisch erweitern, so dass heutige Maturaprüfungen in naturwissenschaftlichen Fächern oft mehr verlangen als das, was noch vor 50 Jahren die führenden Wissenschaftler des entsprechenden Gebiets wussten.
In Anbetracht dessen erscheint die folgende Prognose nicht einmal sehr gewagt: Indem wir in den nächsten Jahren noch bedeutend tiefer in die Geheimnisse der Natur eindringen und damit immer besser erkennen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, werden sich unsere Vorstellungen von der Welt und dem Universum, von Raum und Zeit, von Materie und Substanz, von Mensch und Natur noch einmal dramatisch verändern. Was wiederum Technologien hervorbringen wird, die uns heute noch unvorstellbar erscheinen.
Betrachten wir nur einige Gebiete und die in ihnen zurzeit stattfindenden Entwicklungen: In der Teilchenphysik wächst nach der Entdeckung des Higgs-Teilchens die Spannung bei den Physikern. Und während Teilchenbeschleuniger wie der Large Hadron Collider in Genf immer kleinere Strukturen unserer Welt untersuchen, bringt die neuste Generation von Forschungssatelliten neue Erkenntnisse über die allergrössten Strukturen im Universum und führt uns so immer tiefer in die Entstehungsgeschichte unseres Universums (wo die Kosmologen ironischerweise teils auf die gleichen Fragen wie die Teilchenphysiker treffen). Parallel dazu lernen ihre Kollegen aus der Nanophysik immer genauer die Eigenschaften der Mikro- und Nanowelt kennen. Hier offenbaren sich aufregende neue Möglichkeiten, deren Anfänge bereits mit Stichwörtern wie ‚Mini-Roboter‘ oder ‚Wunder-Materialien‘ in den Bereich der öffentlichen Darstellung gelangen. Und die neuesten Experimente zu verschränkten Quantenzuständen versprechen nicht nur vertiefte Einblicke in das Geschehen im Mikrokosmos, sondern auch eine neue Art von Computern. Mit sogenannten ‚Quantencomputern‘, die auf zahlreichen Quantenzuständen -so genannte ‚Quantenbits‘ – parallel rechnen, anstatt wie klassische Computer Bit für Bit zu verarbeiten, entstünden Rechenmaschinen, die unsere heutigen ‚Supercomputer‘ wie Taschenrechner aus den 1970er Jahren aussehen liessen. Dabei entwickelt bereits die herkömmliche Computertechnologie immer neuere Möglichkeiten der Daten- und Informationsverarbeitung, die ihrerseits ganz neue Dimensionen technologischer Kapazitäten freisetzen. Mit ihren neusten bildgebenden Verfahren, Computersimulationen und anderen Technologien verschafft uns die Neuroforschung einen immer tieferen Einblick in die Struktur und Dynamik unseres Gehirns. Es ist abzusehen, dass wir schon bald noch viel genauer die Grundlagen und Funktionsweise unseres Denkorgans verstehen werden. Schon heute werden wir Zeuge der ersten Schritte, das Gehirn direkt mit Computern zu verbinden. Die damit einhergehenden zukünftigen Möglichkeiten der Kommunikation lassen sich noch gar nicht ausmalen. Wird die Wissenschaft vielleicht schon bald in der Lage sein, das Phänomen unseres Bewusstseins zu erklären? Gehen wir weiter und betrachten die Medizin und die Biologie: Weitere Fortschritte hier werden uns Krankheiten heilen lassen, die heute noch als unheilbar gelten. Und zuletzt könnten wir durch Veränderung der Gene sogar in unsere eigene Evolution eingreifen, was uns zuletzt zu der Frage führt, was das Leben selbst ist und woher es kommt. Es braucht nicht allzu viel Vorstellungsvermögen um zu erkennen, dass all diese Entwicklungen uns Menschen, unser Bild von uns selbst und unsere Interaktion mit der uns umgebenden Natur dramatisch verändern werden – und dabei ethische Fragen ganz neuer Dimension aufwerfen.
Seit jeher versuchen Menschen, in die Zukunft zu blicken. Zumeist lagen sie mit ihren Prognosen gründlich daneben. Prophezeiungen, wie die Welt im Jahr 2000 aussieht, und wie wir mit Hilfe der Atomenergie nahezu beliebige Maschinen bauen könnten, gab es bereits in den 1940er- und 1950er-Jahren. An das Internet allerdings hat dabei niemand gedacht. Nehmen wir die letzten 100 Jahre als Vorlage und berücksichtigen dazu die fortlaufende Beschleunigung unseres Wissens und technologischen Know-hows, so erscheint keine noch so gewagte Vorhersage unserer zukünftigen technologischen Möglichkeiten übertrieben. Die Zuschauer der bekannten US-Fernsehserie ‚Star Treck‘ staunten in den 1960er-Jahren noch über tragbare Computer und Telefone, Roboter und andere futuristische Gegenstände. Der grösste Teil dieser ‚Technologie des 23. Jahrhunderts‘ ist heute bereits Realität (ausser natürlich die Teleportation). Ein Zeitreisender aus dem Jahr 1915 würde in vielen Technologien, die er in unserer heutigen Welt erleben würde, Zauberei am Werk sehen.
Doch wir wissen, es ist nicht Zauberei, sondern die Computer-, Bio-, Neuro- und Nanotechnologie, Künstliche Intelligenz und andere Anwendungen der Quantentheorie und der Biowissenschaften des 20 Jahrhundert, die unser heutiges Leben bestimmen. Können wir am Ende des 21. Jahrhunderts vielleicht Kraft unserer Gedanken – und den Computern, die sie lesen, Roboter allerlei Art, die uns dabei unterstützen, und der Supraleitung, die bei Raumtemperatur Dinge magnetisch schweben lassen – Objekte bewegen und manipulieren? Lassen sich mit den Möglichkeiten der Nanotechnologie dann vielleicht sogar Gegenstände ineinander umwandeln oder (nahezu) aus dem Nichts schaffen. Wird uns die Biotechnologie in die Lage versetzen, unsere Körper zu perfektionieren, heute noch unheilbare Krankheiten auszumerzen, unsere Lebensspanne zu verlängern und nicht zuletzt mit Hilfe der Neurotechnologie die Fähigkeiten unseres Geistes zu potenzieren? Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden wir neue Lebensformen schaffen, die es noch nie zuvor gegeben hat (sowie solche, die es früher einmal gegeben hat). Computer werden mit grosser Sicherheit Komplexitäten meistern, die uns heute noch qua ihrer scheinbaren Unvorhersagbar- und Unkontrollierbarkeit ehrfürchtig erschaudern lassen. Technologen wie diese werden aller Voraussicht nach nicht zuletzt auch das menschliche Wesen, seine Identität und sein Bewusstsein verändern. Und all dies berücksichtigt noch nicht einmal die Möglichkeit, dass eine erweiterte Theorie der physikalischen Grundkräfte in den nächsten 100 Jahren noch einmal Türen zu ganz neuen Technologien eröffnen könnte. Im Jahr 1915 kannten die Menschen weder Quanten- noch Gentheorie (nur einige wenige begannen gerade diese Disziplin zu entdecken), auf die der wesentliche Teil unserer heutigen sowie der beschriebenen möglichen zukünftigen Technologien beruhen.
Auch wenn uns all diese Technologien noch unvorstellbar erscheinen – ihre Keime werden bereits heute gelegt. Und ihre Konsequenzen sind aufregend und bedrohlich zugleich. Auf der Basis der technologischen Entwicklung werden sich ganze Gesellschaften grundlegend und mit atemberaubender Geschwindigkeit transformieren. Mit dieser Entwicklung lässt sich absehen, dass die Erzeugung des beispiellosen globalen Wohlstands der letzten 200 Jahre weitergeht und sich noch beschleunigt – auch wenn wir immer wieder und überall auf das Malthus’sche Problem begrenzter Ressourcen treffen (Grenzen, welche der technologische Fortschritte bisher immer wieder verschieben konnte). Und dieser Wohlstand wird schliesslich auch nicht auf die europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften beschränkt bleiben. Damit wird ein Riesenpool an Talenten, ein gewaltiges Potenzial an Humankapital, zur Wissenschaft stossen.
Wir werden es brauchen, türmen sich doch vor uns neben der beschriebenen technologischen Möglichkeiten zugleich nicht minder gewaltige Probleme auf, die wir Menschen lösen müssen, um überhaupt überleben zu können: Umweltzerstörung, Klimaveränderungen, Überbevölkerung, Nahrungsmittelengpässe, Wirtschaftskrisen, nukleare Bedrohung, um nur einige zu nennen. Nicht zuletzt um neue Denkansätze und Lösungen für diese Probleme zu entwickeln, brauchen wir die vielen intelligenten Menschen aus allen Kulturkreisen und ihre möglichen Ideen. Die Art und Weise, wie wir den Möglichkeiten und Problemen der wissenschaftlich-technologischen Veränderungen der nächsten 50 bis 100 Jahre und den damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen begegnen, könnte letztendlich über das Schicksal der Menschheit entscheiden. Im Spannungsfeld zwischen dem wissenschaftlich-technologischem Entwicklungsmomentum einerseits und der globalen Problemdynamik andererseits wird es in den nächsten Jahrzehnten mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Moment geben, in dem sich die Spielregeln des menschlichen Lebens auf diesem Planeten grundsätzlich verändern werden. Ist die heranwachsende Generation auf diese Entwicklung vorbereitet? Wir ihr sollten klarmachen: Die wissenschaftliche Methode ist alles andere als perfekt. Immer wieder hat sie uns Fehler machen lassen – und wird dies auch weiterhin tun (Fehler zu machen – und diese dann wieder zu korrigieren – ist gar Bestandteil ihrer methodologischen Natur). Aber es ist die mächtigste Methode, über die wir zur Erkenntnisgewinnung über die Natur und der Verbesserung unserer Lebensbedingungen verfügen. Sie nicht zu verwenden oder gar zu verdammen, wäre nicht nur töricht, sondern auch grob fahrlässig.