Die ewige Diskussion um die Kernkraft – Alter Wein in neuen Schläuchen
Es wird es immer schwieriger, einer breiten Öffentlichkeit die Problemstellungen der Wissenschaften und ihr technologisches Potential zu erschließen. Und doch müssen gerade auch sie Bestandteile des demokratischen Dialogs einer offenen Gesellschaft sein. Dabei weisen sie unterdessen allerdings eine derart rasante und komplexe Dynamik auf, dass sich ihre Auswirkungen nicht nur dem geistigen, sondern zunehmend auch dem ethischen Radar der meisten Menschen entziehen. Es ist daher nicht überraschend, dass wichtige wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Entwicklungen heute allzu oft den Radarschirm der öffentlichen Aufmerksamkeit unterlaufen.
Eine besondere wissenschafts- und technologiepolitische Diskussion, die bereits weit mehr als 50 Jahre alt ist, ist die Debatte um die Atomenergie. Man könnte sie geradezu als „Grossmutter aller technologiepolitischen Diskussionen“ bezeichnen. Sie ist ein Musterbeispiel ihrer Art, in negativer wie in positiver Hinsicht. Die Intensität und Breite, mit der sie geführt wird, würde man sich für andere Technologiefelder wünschen, während dich die Augenscheinlichkeit der kommerziellen und politischen Interessen zahlreicher ihrer Teilnehmer durchaus in engeren Grenzen bewegen könnte.
Jüngst gaben einige Wissenschafts- und Fernsehjournalisten für ihre Verhältnisse erstaunlich starke Plädoyers für die Kernkraft ab. Dabei beziehen sich unterdessen die meisten der Argumente von Seiten der Kernkraftbefürworter auf das Versprechen zukünftiger anstatt auf die Eigenschaften gegenwärtiger Reaktortechnologien. Denn auch die beschwichtigenden Beteuerungen der Atomindustrie vermochten die Restrisiken der heutiger Kernenergie niemals komplett zu verbergen und die Stimmen derer niemals zu überzeugen, die sich weigern, mathematisch quantifizierten Modellrechnungen für Wahrscheinlichkeiten als Grundlage des gesellschaftlichen Diskurses über Atomenergie anzuerkennen (multipliziert man denn eine sehr kleine Zahl, d.h. geringes Risiko, mit einer sehr grossen Zahl, d.h. hohe, gegebenenfalls zivilisationsbedrohende Schäden eines Ereignisses, so stösst die Beurteilung des Ergebnisses auch mathematisch an seine Grenzen).
Bei den (nicht immer) neuen Versprechungen zu zukünftigen super-sicheren und super-sauberen Kernkraft-Technologien sticht ein Konzept besonders hervor: der „Liquid-Fluoride-Thorium-Flüssigsalzreaktor (LFTR)“. Man könnte in gewisser, aber angemessener Übertreibung sagen, er steht stellvertretend für all die Zukunftsversprechen der Atomindustrie. Es handelt sich dabei ein Kernreaktor, bei dem der Kernbrennstoff in geschmolzenem Salz (meist Fluoride) gelöst ist und dieses zugleich als Wärmeübertragungsmittel dient. Ein solcher Reaktor könnte auch als Brutreaktor funktionieren: Einmal mit einer geringen Menge Spaltmaterial wie Uran-235 oder Plutonium-239 in Gang gesetzt, könnte er dann ausschliesslich mit nicht spaltbaren Nukliden (Atomkernen), beispielsweise Thorium-232, gespeist werden. LFTRs unterscheiden sich von herkömmlichen Reaktoren auf vielfältige Art und Weise, was viele Vorteile (beispielsweise kein Möglichkeit der Kernschmelze, da der Brennstoff bereits flüssig ist und selbst im Notfall keine Druckerhöhung stattfindet, desweitern höhere Betriebstemperaturen, was den thermodynamischen Wirkungsgrad erhöht), aber auch einige schwere Herausforderungen mit sich bringt. Obwohl Brutreaktoren bereits in den 1980er Jahren von der Kernindustrie als neue Wundertechnologie dargestellt wurden, ihre sicherheitsrelevanten Herausforderungen dann aber schon damals zu heftigen öffentlichen Diskussionen und nach dem Reaktorunfall bei Tschernobyl 1986 gar zu umfangreichen politischen Protestaktionen führten, werden ihre Advokaten nicht müde, dieser „möglichen mächtigen Zukunftstechnologie“ vier wesentliche Attribute zuzusprechen, die „selbst hartgesottene AKW-Gegner überzeugen könnten“: inhärente Sicherheit, 10‘000 mal weniger nuklearer Abfall, geringeres Proliferationsrisiko, tiefere Kosten. Zu schön um wahr zu sein, könnte man meinen.
Nun, das ist es auch. Denn schon zeichnet sich ab, dass keines dieser Attribute in der Realität auch nur annähernd so zutrifft, wie es ihre Advokaten der Öffentlichkeit gerne darstellen.
Zum sicheren Betrieb: Die Idee der LFTR wurde bereits in den 1960er Jahren am amerikanischen Oak Ridge National Lab realisiert (allerdings ohne Thorium zu verwenden). Sie ist also weder neu noch technisch ungetestet (der Physiker Eugene Wigner dachte bereits im Verlaufe des US-Atombombenprojektes „Manhattan Project“ während 2. Weltkrieg über die Idee von Salz-Flüssigkeitsreaktoren nach). Dabei kommt der Abschlussbericht dieses Projektes in den 70er Jahren zum Schluss, dass „die bedeutenden Probleme mit dem Konzept ihrer Natur nach eher schwierig sind“. Dass da sogar die ein oder andere Verschwörungstheorie ins Leben gerufen wurde, die diesem Bericht politische oder gar militärische Motivation unterstellt (die gängige Uran/Plutonium-Technologie eignet sich sehr gut zur Herstellung von Nuklearwaffen), darf als Versuch interpretiert werden, die offenen Probleme der LFTR unter den Teppich zu kehren. Beispielsweise sind die Probleme bei der chemischen Abtrennung der zahlreichen Spaltprodukte im Reaktor noch unverstanden. Auch weiss man noch nicht, wie man das ca. 50-mal so viel produzierte radioaktive Tritium behandelt, das bei den hohen Temperaturen des LFTR relativ leicht durch die Wandungen des Reaktorbehälters diffundiert. Und bereits in den 1970er Jahren kämpften die Physiker mit schweren durch die Fluoride hervorgerufenen Korrosionseffekten bei den verwendeten Trägermaterialien. Auch besitzen Brutreaktoren im Allgemein nicht automatisch einen negativen Dampfblasenkoeffizienten (wie von den allermeisten internationalen Sicherheitsrichtlinien zu Kernkraftwerken vorgeschrieben), was – insbesondere in grossen Reaktoren – zusätzliche Sicherheitseinrichtungen im Vergleich zu herkömmlichen Anlagen erfordert (die im Falle eines Thorium-Reaktors allerdings automatisch durch eine trickreiche Schmelzsicherung gegeben ist, wie seine Advokaten behaupten). Bis heute gibt es keine moderne offizielle Sicherheitsbewertung für LFTR.
Zum geringeren Abfall: Das Problem der Behandlung und Entsorgung schwach bis mittelstark verstrahlter Maschinen- und Anlagenteile besteht wohl in ähnlichem Maße wie bei herkömmlichen Uran-Reaktoren (auch wenn die Zerfallsdauer der Abfallprodukte geringer ist). Besonders schwierig ist zudem, dass einige Spaltprodukte der LFTR als nicht endlagerfähig gelten, da sie in Form von Fluoride-Salzen wasserlöslich sind, und so erst in eine endlagerfähige Form aufgearbeitet werden müssen.
Zum geringeren Proliferationsrisiko: Mit Thorium als Brennstoff entsteht im Verlauf des Brütens in einem LFTR auch Uran-233 (via Protactinium-233), welches eine ähnlich geringe kritische Masse hat wie das als waffenoptimal angesehen Plutonium-239, dazu noch eine viel kleinere Spontanspaltungsrate als Waffenplutonium, so dass es als optimales Kernwaffenmaterial zu gelten hat. Dazu kommt die Entstehung von Neptunium-237 in einem LFTR, welches einen Wirkungsquerschnitt für den Einfang von schnellen Neutronen hat, der es ebenfalls als potentielles Kernwaffenmaterial tauglich sein lässt (auch wenn bisher noch niemand eine entsprechende Bombe konstruiert hat; seine kritische Masse beträgt 60 kg).
Und zuletzt zu den Kosten: Wie jede neue Nuklear-Technologie ist die erforderliche anfängliche Investitionssumme für ein LFTR enorm, was selbst die Betreiber von Kernkraftwerken ambivalent reagieren lässt. So sind insbesondere Zweifel an den ökonomischen Vorteilen der angepriesenen kleinen „modularen Einheiten“ von LFTRs angebracht. Die Hersteller müssten Tausende von ihnen vorher vertraglich absichern, um die immensen Investitionskosten zu rechtfertigen – ein einziges ökonomisches Abenteuer! Aber auch die laufenden Kosten wären nicht automatisch geringer wie behauptet: Einerseits sinken die Kosten durch den geringen Druck und Einsparungen beim weniger aufwendigen Containment tatsächlich. Andererseits ergeben sich aber auch zusätzliche Kosten, so durch die teureren Materialien für die höheren Betriebstemperaturen, ein komplexeres System zur Gasbehandlung oder für das Auffangen von Tritium.
Bei all diesen Problemen wird es bis zur Fertigstellung eines kommerziell erhältlichen LFTR, der auch nur annähernd hält, was seine Fürsprecher versprechen, noch 40 bis 70 Jahre dauern. Wir erkennen hier also genau die Argumentationsstruktur der Atomindustrie, die uns schon seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren in politische Geiselhaft nimmt: Wir bauen heute auf eine Technologie, die mit massgeblichen Unsicherheiten, Risiken und nicht quantifizierbaren Kosten verbunden ist, versprechen dabei aber für die Zukunft ein goldenes Energie-Zeitalter, wenn wir erst einmal die Probleme gelöst haben (und benötigen dafür natürlich noch weitere Milliarden an öffentliche Geldern!).
Doch auch mit neuen Technologien sind die alten Probleme der Kernkraft verbunden. Im Investment-Jargon heisst es: „Schmeisse nicht gutes Geld schlechtem Geld hinterher“. Wir sollten dies auch in der Energiepolitik beherzigen, anstatt uns auf die ewig gleichen Versprechen eine übersubventionierten, unsicheren und sowohl physikalisch als auch politisch fragwürdig argumentierenden Industrie einzulassen. Denn wie heisst es bei Matthäus 9,17: „Auch gießt man nicht neuen Wein in alte Schläuche. Sonst zerreißen die Schläuche, der Wein wird verschüttet, und die Schläuche sind verdorben.“