Kampf um CRISPR – eine technologische Revolution zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisdrang und kapitalistischer Verwertungslogik
Ein Urheberstreit um eine wissenschaftliche Entdeckung ist kein ausschliesslich modernes Vorkommnis. Der wohl bekannteste Streit um die Erst-Autorenschaft einer wissenschaftlichen Leistung liegt bereits mehr als 300 Jahre zurück: Newtons Kampf gegen Leibniz um die Entwicklung der Infinitesimalrechnung. Doch während es beim von ersterem vom Zaum gebrochenen Prioritätenstreit ausschliesslich um Ruhm und Ehre ging und mit Worten (und persönlichen Verunglimpfungen) gekämpft wurde, geht es beim Kampf um den Anspruch einer wissenschaftlichen Erst-Entdeckung heute um Milliarden von Dollar, und gekämpft wird mit Anwälten und Streitklagen vor Gericht.
Beim aktuellsten Beispiel für einen solchen Streit geht es um die gentechnologische Methode „CRISPR“. Was für die meisten Menschen so harmlos klingt wie ein Müsliriegel ist für Biologen und Ärzte der wohl bedeutendste wissenschaftliche Durchbruch dieses Jahrhunderts mit einem gewaltigen revolutionären Potential für Anwendungen in Medizin und Humangenetik. „CRISPR“ steht für „clustered regularly interspaced short palindromic repeats“ und beschreibt bestimmte Abschnitte sich wiederholender DNA-Stücke im Erbgut von Bakterien. Bei Infektion mit Phagen (Viren) ist es ihnen damit möglich, Teile der viralen Fremd-DNA in ihre eigene DNA zu integrieren (zwischen die nämlichen CRISPR-Regionen, als so genannte „Spacer“-Sequenzen). Der eingegliederte DNA-Teil funktioniert dann wie ein Fahndungsfoto. Sobald Viren mit dieser DNA das Bakterium erneut angreifen, erkennen die Bakterienzellen die exogene DNA und können sofort den gewünschten Schutz aufbauen. So werden die Bakterienzellen gegen die Viren immun. Konkret gesellt sich zu diesem Zweck zur CRISPR-DNA das Enzym „Cas9“ (es gibt auch noch zahlreiche weitere ähnliche Mechanismen mit anderen Enzymen). Der zusammengesetzte Komplex aus beiden ist für die Gentechniker nun besonders interessant, denn er funktioniert wie Legobaustein-Finder und Schere zugleich: Die Geningenieure bestücken den CRISPR/Cas9-Enzymkomplex mit einer Sequenz, die genau komplementär zu der gewünschten DNA-Zielsequenz ist. Dieser Gesamt-Komplex findet dann die gewünschte Zielsequenz in der DNA und schneidet diese genau dort auf. Daraufhin lässt sich eine beliebige neue Gensequenz einbauen oder eine alte ersatzlos entfernen.
Dies gibt der neuen Technologie eine schier unglaubliche Potenz. Ob in pflanzlichen, tierischen oder menschlichen Zellen, mit Hilfe dieser neuen Technik lassen sich Gensequenzen punktgenau ersetzen, verändern oder entfernen, und dies schnell, präzise und sehr billig. Was früher Wochen, Monate oder Jahre gendauert hat und zudem sehr fehlerhaft war, lässt sich mit CRISPR/Cas9 mit sehr hoher Genauigkeit in Stunden und Tagen erreichen. Für manche medizinische Anwendung ist die Technik bereits derartig weit entwickelt, dass schon in wenigen Jahren klinische Studien möglich erscheinen. Schon träumen die Mediziner davon, mit CRISPR zahlreiche Erbkrankheiten behandeln zu können, aber auch Menschheitsplagen wie Aids, Malaria, Diabetes, Krebs und zahlreiche altersbedingte Krankheiten. Und die Frage steht bereits im Raum: Lassen sich mittels CRISPR zuletzt sogar menschliche Eigenschaften wie Schönheit und Intelligenz genetisch beeinflussen? Mäuse lassen sich mit gentechnischen Methoden schon bedeutend intelligenter machen. Wie lange wird es dauern, bis dies auch beim Menschen möglich ist? Oder könnten wir gar komplette Genome und damit vielleicht auch Lebenswesen – und zuletzt auch Menschen – mit ganz neuen Eigenschaften synthetisch herstellen? Tatsächlich erscheinen solche Szenarien mit CRISPR/Cas9 sehr viel schneller realistisch zu werden als dies noch vor wenigen Jahren selbst die größten Optimisten unter den Gentechnologen für möglich hielten. So spekulieren die Wissenschaftler schon nicht mehr darüber, ob das erste CRISPR-Baby kommen wird, sondern darüber, wo es wohl geboren wird (mit Blick auf die jeweilige Gesetzeslage lautet die Antwort gemäss einer Umfrage des Wissenschaftsmagazin „Nature“: in Japan, China, Indien oder Argentinien).
Nicht weniger bedeutende Möglichkeiten ergeben sich mit CRISPR auf dem Gebiet der Pflanzenzucht. Anders als bisherige gentechnische Methoden, wie sie bei der Herstellung transgener Pflanzen zum Zuge kommen, würden sich Organismen, die mit CRISPR/Cas9 verändert werden, kaum von natürlichen Mutationen unterscheiden lassen, da nur einzelne punktuelle und spezifische genetische Veränderungen vorgenommen werden, die auch in der Natur entstehen könnten (wenn auch mit wesentlich geringerer Wahrscheinlichkeit). Dadurch liessen sich beispielsweise ganz spezifische Resistenzen gegen Pilze oder andere Krankheitserreger in das Genom heutiger besonders ertragreicher aber gegen bestimmte Erreger empfindliche Reis- oder Weizensorten implantieren, die sich dann nur in dieser einen Eigenschaft, bzw. in dem einen Gen von den ursprünglichen Sorten unterscheiden. Diese Form der Gentechnik wäre für Konsumenten unter Umständen akzeptabler, da ihre Eingriffe punktgenau und damit viel kontrollierter verliefen und prinzipiell einer natürlich vorkommenden Art entsprechen könnten. Insbesondere in armen Ländern verspricht CRISPR ganz neue Ertragsmöglichkeiten für Nutzpflanzen. Einige europäische Länder, wie beispielweise Schweden, haben bereits erste Feldversuche mit CRISPR-modifizierten Pflanzen genehmigt, und dies genau mit dem Hinweis, dass sich diese nicht grundsätzlich von konventionellen Züchtungen bzw. natürlichen Mutationen unterscheiden. Ggfs. müssten solche CRISPR-geneditierten Pflanzen gar nicht mehr als „genveränderte Pflanzen“ angesehen werden und unterstünden damit nicht entsprechenden Regulationen, sagen einige Genetiker sowie Farmer bereits.
Bei all diesem Potential benötigt CRISPR eine technologische Infrastruktur und ein Knowhow, das schon bald jedem durchschnittlichem Genlabor, ja bald sogar vielleicht gymnasialen Schulklassen, zur Verfügung stehen könnte. So werden auf der Internet-Plattform Indiegogo bereits „do-it-yourself“ Gen-Editier-Kits verkauft, mit denen ab 75 US Dollar jeder zuhause Genom-Editierung an Bakterien oder Hefezellen durchführen kann. Für grad einmal 130 US Dollar gibt es ein CRISPR-Set samt detaillierten Anweisungen.
Trotz (oder gerade wegen) ihres enormen technologischen Potentials sowie ihrer unmittelbaren technologischen Umsetzbarkeit wirft diese Methode allerdings auch einige sehr kritische Fragen auf. So ist die Hauptsorge der Bioethiker, dass es durch sie sehr viel einfacher wird, modifizierte DNA in die Keimbahn von Lebenswesen einzubringen und damit deren Eigenschaften dauerhaft zu beeinflussen. Bereits seit Jahren bemühen sich die Biowissenschaftler um Verfahren, durch gezielte genetische Beeinflussung der vererbbaren Eigenschaften spezifische Veränderungen in ganzen Populationen von Lebewesen zu erreichen, beispielsweise um in der Natur vorkommende krankheitserregende Insekten weniger gefährlich zu machen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von „gene-Drive“. Durch entsprechende genetische Mutationen ist „gene drive“ begrenzt auch Bestandteil der natürlichen Evolution. Doch CRISPR/Cas9 verleiht den Biotechnologen mit einem Mal neue, schier grenzenlose Möglichkeiten, diesen Prozess von aussen zu steuern. Denn normalerweise vermögen sich (vorteilhafte) Mutationen – ob zufällig entstanden oder mit Absicht erzeugt – erst im Verlaufe von vielen Generationen in einer freien Population auszubreiten, da sie gemäss der Mendel’schen Regeln jeweils nur an die Hälfte der Nachkommen vererbt werden. Doch ist es den Biologen mit Hilfe der CRISPR-Technik gelungen, eine Methode zu entwickeln, die genetische Veränderung auf einem elterlichen Chromosomenstrang auf einfache Art und Weise auf den anderen Chromosomenstrang in der diploiden Zelle zu kopieren. Damit ist es möglich, den natürlichen Wert der erblichen Übertragung von veränderten Genen von 50% auf 100% zu bringen. Innerhalb einer sehr kurzen Zeit kann sich so die angestrebte genetische Veränderung in einer gesamten Population durchsetzen.
Die CRISPR-Technik erscheint wie ein Flaschengeist, der den Biologen all ihre Wünsche zu erfüllen verspricht. Doch eine Technologie, die potentiell ganze Spezies verändern und ausrotten kann, auch wenn dies zunächst Krankheitserreger sind, wirft ganz neue ethische Fragen auf, die Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger erst beginnen zu verstehen. Können wir wirklich wollen, dass Eltern über detaillierte Eigenschaften ihres Nachwuchses entscheiden? Was würde es bedeuten, wenn gentechnisch optimierte Menschen denjenigen, die ihren Gen-Mix nach dem Millionen Jahre alten „Zufallsverfahren“ erhalten haben, hinsichtlich kognitiver oder körperlicher Fähigkeiten deutlich überlegen sind? Im Westen scheitern derartige Möglichkeiten noch an gesetzlichen Hürden, und die Bedenken gegen solche Formen der Eugenetik sind generell sehr gross. Anders in China, wo man eugenischen Bemühungen sehr offen gegenüber scheint.
Zugleich ist die mit CRISPR verbundene Entwicklung derart rasant, dass das Reaktionsvermögen der gesellschaftlichen Entscheidungsträger – auch in Anbetracht des bei ihnen ohnehin schwach entwickelten Bewusstsein für den Entwicklungsstand der Wissenschaften – wohl bedeutend zu langsam ist, um diesen Geist bei Bedarf wieder in seine Flasche zu bringen. So dauerte es bereits vor 75 Jahren von der wissenschaftlichen Entdeckung der Spaltbarkeit des Uran-Atomkerns bis zu den Atompilzen von Hiroshima und Nagasaki gerade mal sieben Jahre. Dies liess den Schweizerischen Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt in seinem bekannten Theaterstück Die Physiker von 1961 formulieren: „Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen.“ Dürrenmatt würde sein Stück heute wohl Die Biologen nennen.
Anstatt militärischer Interessen während der Zeit des zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs überwiegen heute kommerzielle Dimensionen die Diskussion um technologische Entwicklungen. Die Aussicht auf Milliarden-Geschäfte, die neue Technologien versprechen, macht die Aufgabe, Ginis wie CRISPR zu kontrollieren, noch schwieriger. So ist es kaum verwunderlich, dass um die CRISPR/Cas9-Technolgie bereits ein heftiger Patentstreit ausgebrochen ist, hinter dem gewaltige ökonomische Interessen einzelner Firmen und Institutionen stehen. Die CRISPR-Patente könnten Milliarden von US-Dollars wert sein. Solche Summen konstituieren nahezu zwangsläufig „Sachzwängen“, bei denen Wissenschaftler meinen, nicht mehr anders entscheiden zu können als ihre Technologien ohne weitere Bedenken weiterzuentwickeln. Die – oft kurzfristig agierende und externalisierte Kosten ignorierende – kapitalistische Verwertungslogik ist heute eine gewaltige Kraft, die der Differenzierung und ethischer Reflexion bei der Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien entgegenwirkt. Dabei geht bei Fragen wie der geeigneten Verwendung von CRISPR um weit als ein paar Milliarden Dollar Gewinn für ein paar Unternehmen: Es geht um nichts weniger als das Überleben der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen. Die Möglichkeiten von Technologien wie CRISPR stellen in letzter Hinsicht jeden einzelnen Menschen, jeden von uns, in Frage. Wie wir mit ihnen umgehen, bestimmt die Zukunft unserer individuellen Würde und Freiheit und unseres Menschseins an sich.
Dass unter Wissenschaftlern der dazu notwendige Diskurs möglich ist, zeigt der im Frühjahr 2015 veröffentlichte Appell einer Gruppe führender Biologen an die Öffentlichkeit, den mit CRISPR gegeben bio- und gentechnologischen Möglichkeiten Einhalt zu gebieten. Dieser Aufruf hat einen prominenten historischen Vorläufer: die von Bio-Wissenschaftlern organisierte Konferenz von Asilomar von 1975. Es war die erste Konferenz zu den Risiken der damals noch jungen Gentechnologie und der gerade entdeckten Technik der DNA-Rekombination. Konkret ging es in Asilomar bereits um mögliche Rahmensetzungen und Regeln zur Produktion und Handhabung gentechnisch veränderter Organismen. Die von den Wissenschaftlern dort beschlossenen Sicherheitsrichtlinien wurden in vielen Staaten später zur Grundlage von gesetzlichen Regelungen.
Der Patentstreit um CRISPR wird vor den amerikanischen und europäischen Patentgerichten ausgefochten, wo es um rein kommerzielle Interessen der gegnerischen Parteien geht. Die ethische Bewertung und politische Gestaltung dieser neuen Technologie muss dagegen weit über die Vertretung von kommerziellen Interessen Einzelner hinausgehen. Sie erfordert keine Patentgerichte, sondern das demokratische Engagement eines jeden von uns.