Mehr Zukunft wagen – Wie wir alle vom technischen Fortschritt profitieren

Ein erstaunlicher Widerspruch prägt unsere Zeit. Immer mehr Menschen führen ein Leben in höchstem Komfort, in nahezu totaler Sicherheit und mit einem beispiellosen Mass an Gesundheit bis ins hohe Alter. Gleichzeitig denken die meisten, der Zustand der Welt sei schlecht, und er würde immer schlechter. Man könnte sagen: Himmel und Hölle existieren für uns parallel, sie durchdringen sich im Hier und Jetzt. Auf diesen Widerspruch ist eine weitere Paradoxie aufgesetzt: Für beide Szenarien ist derselbe Auslöser verantwortlich – der wissenschaftliche und technologische Fortschritt. Er sorgt dafür, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die alle Hoffnungen der Vergangenheit an Paradieshaftigkeit längst übertroffen hat. Aber er ist auch die Ursache dafür, dass wir mit grösster Sorge in die Zukunft schauen. Uns beherrscht eine bequeme, aber blinde Technikgläubigkeit, wir geniessen den Luxus von Autos, Computertomografie und automatischer Abwasserentsorgung, vertrauen auf das Funktionieren von Smartphone, digitaler Datenkommunikation und Antibiotika, zugleich fürchten und verteufeln wir die technologische Zukunft.

Es wird viel über zukünftige Technologien diskutiert, aber nur wenige ahnen, wie stark sie uns durchschütteln werden. „Wir neigen dazu, die Wirkung von Technologien kurzfristig zu überschätzen und sie langfristig zu unterschätzen“, formulierte bereits in den 1970er Jahren der amerikanische Forscher und Stanford Professor Roy Amara. So ist kaum jemandem bekannt, dass bereits heute

• …neue gentechnologische Methoden gezielt Augenfarbe, Körpergrösse und vielleicht schon bald Intelligenz von Menschen manipulieren können.
• … Roboter so gross wie Viren, sogenannte Nanobots, in lebenden Organismen eingesetzt werden, um dort beispielsweise Krebszellen zu bekämpfen oder gezielt Medikamente zu verabreichen.
• … die Medizintechnik Querschnittsgelähmte wieder gehen lässt.
• … Roboter allein mit Hilfe von Gedanken gesteuert werden.
• … im Tierversuch Gehirne zusammengeschaltet werden, so dass sie wie ein einziges Denkorgan agieren.
• … lebende Bakterien zu 100 Prozent künstlich hergestellt werden.
• … Fleisch in 3D-Druckern ausgedruckt wird.
• … sogenannte Quantencomputer konstruiert werden, deren Rechenkraft so immens ist, dass sie die Arzneientwicklung ebenso revolutionieren werden wie Geheimdienste, das Finanzwesen und die chemische Forschung.

Durch Wissenschaft und Technologien hat der Mensch in den letzten 250 Jahren seine Umwelt und seine Lebensbedingungen tiefgreifend verändert, und in vielen Fällen bereitet es uns heute noch viel Mühe, uns auf diese Änderungen einzustellen und mit ihnen fertig zu werden. Doch ist das biologische und psychisch-geistige Fundament unseres Wesens dabei weitestgehend unberührt geblieben. Aber nun wird der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte selbst zum Gegenstand technologischer Entwicklungen. In der Fortschrittsdynamik stehen wir an einem Punkt, an dem Bio-, Gen-, Quanten- und Neurotechnologie den Menschen und die menschliche Zivilisation in bisher unvorstellbarer Weise transformieren und unser Selbst- und Menschenbild sowie die Spielregeln unseres Lebens und Zusammenlebens entscheidend verändern. Auf uns wartet also nicht nur eine weitere industrielle Revolution, von denen es schon einige gab, vielmehr müssen uns wir auf eine erste Revolutionem humanam, eine Revolution des Menschseins an sich einstellen, eine „Umdrehung“ dessen, was uns Menschen im Innersten ausmacht und als was wir uns definieren. Diese „Human-Krise“ entscheidet über unsere Zukunft als Menschen; sie ist drängender, umwälzender und bedrohlicher, als es sogar Klimakatastrophe oder Überbevölkerung sind.

Gleichzeitig greift die digitale Revolution das Immunsystem unserer Demokratie an und bringt ihr Ortungssystem für Fakten und Fiktion durcheinander. Unsere Daten im Internet werden für die politische Meinungsbildung verwendet, und um unsere Meinungen zu manipulieren. Dabei werden wir Opfer unserer zahlreichen in der psychologischen Forschung lange bekannten kognitiven Verzerrungen. Keine guten Voraussetzungen, um der Human-Krise zu begegnen. In Anbetracht dieser Entwicklungen müssen wir uns fragen: Wer bzw. welcher Teil unserer Gesellschaft ist am besten geeignet, die notwendigen Entscheidungen zur Bewältigung der Human-Krise zu treffen? Verschiedene Anwärter stehen zur Disposition:

• die Gemeinschaft der Wissenschaftler
• die politische Führung
• Angehörige der Kirchen und anderer Glaubensgemeinschaften
• Kulturschaffende/Intellektuelle
• Journalisten
• Vertreter der Wirtschaft/des freien Marktes

Bei genauer Betrachtung wird klar: Im Alleingang wird keiner dieser gesellschaftlichen Akteure den technologischen Fortschritts zum Vorteil aller gestalten können. Wissenschaftler können den technologischen Fortschritt kaum selber steuern, die Politik ist zu langsam, die Kirchen sind zu dogmatisch, Journalisten überfordert, Kulturschaffende mahnen eher als zu gestalten, Unternehmer preschen zwar vor, handeln aber zu opportunistisch nur nach ihrem eigenen (finanziellen) Vorteil. Vielmehr führt kein Weg an einer Allianz aller gesellschaftlichen Kräfte vorbei. Die gesellschaftliche Gesamtheit muss entscheiden, was wir wollen und wohin es gehen soll, nicht einzelne Institutionen, Interessenvertreter, Experten oder Wortführer. Dafür brauchen wir den Austausch der Interessen, den konstruktiven Dialog der Argumente und den Einbezug vieler verschiedener Meinungen. Mit anderen Worten: Wir brauchen eine Besinnung auf eine gemeinsame demokratische Kultur. Das grösstmögliche Glück aller Menschen wird dann erreicht, wenn sich so viele unterschiedliche Gestaltungskräfte wie möglich um den Ausgleich der Interessen, Stabilität und Nachhaltigkeit bemühen. Dies ist nur in einer offenen, demokratischen Gesellschaft möglich.

Damit genau dies in einem demokratischen Konsens geschehen kann, müssen wir, anstatt nach einer allmächtigen Instanz zu fragen, die alles richten soll, bei uns selbst anfangen. Ein jeder von uns muss seine kognitiven Verzerrungen, seine alltäglichen Selbsttäuschungen und seine eigene intellektuelle Unredlichkeit soweit irgend möglich erkennen und versuchen, sie zu minimieren. Wir alle haben den Auftrag, uns selbstbestimmt zu informieren, auszutauschen, zu engagieren und achtsam und aktiv zu werden. Zurzeit scheinen jedoch noch die Renditegier der Technologie-Investoren, die Ideologie der Silicon-Valley-Transhumanisten und ganz allgemein die kapitalistische Verwertungslogik über unsere Zukunft zu entscheiden und uns dabei zu passiven Zuschauern oder Leidtragenden zu degradieren. Wenn wir nicht wollen, dass die neuen Technologien einfach so über uns hinwegrollen und nur wenige die Entscheidungen treffen, die uns alle betreffen, so muss sich ein jeder von uns in den kommenden Jahrzehnten an der aktiven positiven Gestaltung unserer Zukunft beteiligen. Dazu braucht es dreierlei:

1. Wissen, um was es bei den technologischen Entwicklungen geht,
2. Motivation, Mut und die Bereitschaft zum gestalterischen Engagement,
3. Intellektuelle, philosophische und spirituelle Richtlinien.

Erste ermutigende Schritte gibt es bereits. So haben beispielsweise unlängst, ohne dass es darum allzu viel Aufhebens gab, die Führungskräfte der US-amerikanischen Wirtschaft eine ideologische Revolution deklariert: den Abschied von der Devise des „shareholder value“. Sie brechen damit mit der jahrzehntelangen Unternehmensorthodoxie bzgl. des Ziels der Unternehmensführung. Unternehmen sollen nicht mehr, wie bisher in den Business Schulen weltweit gepredigt, nur die Interessen der Aktionäre vertreten, sondern stattdessen sollen sie nun auch in ihre Mitarbeiter investieren, die Umwelt schützen und fair und ethisch mit ihren Geschäftspartners umgehen.

Wie die Bewältigung der Human-Krise gelingen kann und was von jedem dafür verlangt wird, davon erzählt mein neues Buch „Mehr Zukunft wagen“ (https://www.randomhouse.de/Buch/Mehr-Zukunft-wagen/Lars-Jaeger/Guetersloher-Verlagshaus/e558875.rhd). Es führt den Leser auf eine Reise in eine neue, positiv gestimmte gesellschaftliche Utopie. Auf dieser Reise wird sie oder er zunächst die Dystopien kennenlernen, die angesichts des schnellen technologischen Wandels einen grossen Teil des modernen Denkens bestimmen. Der zweite Teil beleuchtet dann die Möglichkeiten, die uns der fortschreitende Wandel bietet. Er betrachtet die Möglichkeiten, wie wir die allseits propagierten negativen Entwicklungen abwenden, den technologischen Fortschritt human gestalten und mit seiner Hilfe für alle Menschen ein wahres Paradies auf Erden erschaffen können.

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