200 Jahre Fahrrad – Vom Oberschichten-Gefährt zum demokratischen Massenfortbewegungsmittel
Nahezu jeder Mensch kennt eine Form der Fortbewegung, die bereits im Kindesalter erlernt und bis ins hohe Alter von nahezu jedermann genutzt werden kann: das Fahrradfahren. Ob man an den Rad-Rennfahrer denkt, der sich in aerodynamisch optimierter Haltung nahezu bäuchlings auf den Rahmen seines Gefährts legt, oder die ältere Dame, die gemütlich aufrecht auf dem Fahrradsessel sitzt, in beiden Fällen entsteht der Eindruck einer gesamthaften eleganten und harmonischen Bewegung. Dahinter steckt eine beachtenswerte Gegebenheit: Der Wirkungsgrad der Umwandlung von körperlicher Stoffwechsel-Energie in mechanische Energie zum Zweck der Fortbewegung beträgt beim Fahrradfahren ca. 25%, ein Wert, der von keiner anderen Form der menschlichen Fortbewegung auch nur annähernd erreicht wird. Auch im Tierreich sucht sie ihresgleichen (auf dem Boden). Das Fahrrad ist also in energetischer Hinsicht das effizienteste Fortbewegungsmittel auf unserem Planeten (nach dem Vogelflug, bei dem der Gleitflug des Albatros hinsichtlich Energieeffizienz besonders hervorsticht, wobei der Vogel allerdings Windenergie ausnutzt). Zum Vergleich: Der Wirkungsrad eines Ottomotors kann bis zu 40% erreichen, was aber erst durch die hohen Temperaturdifferenzen während des Kreislaufs möglich wird, zudem ist ein Auto natürlich viel schwerer: Einhundert Kalorien geben einem Radler die Energie, bis zu fast fünf Kilometer weit zu fahren; ein Auto kommt damit nur 85 Meter weit.
Ein derartiges Wunder-Fortbewegungsmittel sollte doch spätestens von den gewieften Griechen oder technik-begeisterten römischen Ingenieuren in der Antike erfunden worden sein, sollte man meinen. Schliesslich verwendeten schon vor über 4000 Jahren die Sumerer Räder (inkl. Speichen zur Verwendung für Fahrzeuge). Aber nein, das zweirädrige Vehikel ist eine verhältnismässig neue menschliche Erfindung. Vor genau 200 Jahren, am 12. Juni 1817, brach der badische Freiherr Karl von Drais mit der von ihm konstruierten hölzernen „Laufmaschine“ zu seiner ersten Ausfahrt vom Schloss Mannheim zur Pferdewechselstelle auf halbem Weg nach Schwetzingen (die beste Strasse der Gegend) auf. Diesem neuen so nützlichen wie effizienten Fortbewegungsmittels – man kann mit diesem Lauffahrrad mehr als doppelt so schnell fahren wie mit der Pferdekutsche – lag eine bedeutende Basisinnovation zugrunde, die den Menschen eine ganz neue Erfahrung vermittelte: sich in einem labilen Gleichgewicht auf zwei Rädern fortzubewegen und dabei ständig Balance halten zu müssen. Man würde vermuten, dass ein Objekt wie das Fahrrad mit nur zwei Auflagepunkten, welches schon im statischen Fall eine äusserst wackelige Angelegenheit ist, dies in Bewegung erst recht sein sollte. Doch jedes Kind weiss heute: Während es akrobatischer Fähigkeiten bedarf, ein Fahrrad im Stand im Gleichgewicht zu halten, gelingt dies nahezu jedem nach einiger Übung in der Bewegung sehr gut.
Dabei ist auch heute noch nur den wenigsten Menschen die Physik des Fahrradfahrens im Detail vertraut. Doch zu Beginn des 19. Jahrhundert war sie dagegen vollständig unbekannt, was wohl auch der Grund für die eher späte Erfindung des Fahrrades war (mehr als 50 Jahre nach der Dampfmaschine). Es sind u.a. die Drehmomente der rotierenden Räder und die damit entstehenden dynamischen Kräfte, die stabile Gleichgewichtslagen des Fahrrades während des Fahrens ermöglichen, die im Ruhezustand keine Entsprechung haben. Befindet man sich als Radfahrer in solch einer dynamischen Gleichgewichtslage, so genügen bereits geringfügige Änderungen des Lenkeinschlags oder sehr kleine Gewichtsverlagerungen, um ein leicht gestörtes Gleichgewicht wieder herzustellen. Daher erreichen wir das für das Radfahren notwendige Balanciergleichgewicht nach einiger Übung nahezu beiläufig, wozu u.a. das intuitive Verständnis gehört, dass man einem drohenden Umkippen während der Fahrt in eine Richtung dadurch entgegengewirkt, dass man den Lenker in die gleiche Richtung ausschlägt, womit ein kurze Kurve eingeleitet wird und das Fahrrad durch die Zentrifugalkraft wieder zur anderen Seite hin aufgerichtet wird. Und mit besonderer Geschicklichkeit kann man sogar ausschliesslich durch Gewichtsverlagerungen Stabilität erreichen (d.h. freihändig fahren). Welche genauen Gleichgewichtslagen möglich sind, ergibt sich aus einer genauen Bilanz verschiedener wirkender Kräfte und Drehmomente, deren mathematische Behandlung teils komplizierte Berechnungen notwendig macht und vereinzelt bis heute noch nicht in den letzten Details verstanden ist. Warum beispielsweise ein Fahrrad auch ohne Fahrer stabil rollen kann, blieb bis vor wenigen Jahren ein offenes Rätsel (siehe den Fachartikel: J.P Meijaard et al., Linearized dynamics equations for the balance and steer of a bicycle: a benchmark and review, Proceedings of the Royal Society (8. August 2007)). „Jeder weiss, wie man Rad fährt, aber niemand weiss, wie Radfahren funktioniert“, schreibt daher Mont Hubbard, Ingenieur für Sportmechanik an der University of California in Davis.
So entwickelten sich die Fahrräder ausgehend von der Drais’schen Laufmaschine bis zu ihrer heutigen Form eher durch Versuch und Irrtum als durch ein genaues theoretisches und mathematisches Verständnis der zugrundeliegenden physikalischen Zusammenhänge. Die historische Entwicklung des Radfahrens lässt sich damit vergleichen, wie Kinder heute das Fahrradfahren erlernen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es den Menschen noch vollständig unheimlich, beim Radfahren die Füsse vom Boden zu nehmen, genau wie Dreijährige dies auf ihrem ersten Laufrad auch noch nicht tun. Doch schon Drais merkte, dass man für das Fahren einer Kurve die Lenkstange unwillkürlich kurz in die Gegenrichtung drehen muss. Es sollte jedoch Jahrzehnte dauern, bis seine Erfindung aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Erst in den 1860er Jahren wurde das Fahrrad mit einer Tretkurbel am Vorderrad versehen, was die Notwendigkeit nach sich zog, beim Fahren die Füsse vom Boden zu nehmen. Die Menschen hatten ein wenig gebraucht um herauszufinden, dass dies tatsächlich funktioniert. Das Balancieren beim Fahren auf dem so genannten „Velocipeds“ („Schnellfuss“) war jedoch eine Kunst für sich, die durch Training erlernt werden musste. Dabei erlaubte eine starr am Vorderrad befestigte Kurbel zunächst keine allzu grossen Geschwindigkeiten, da die Übersetzung fehlte (in heutiger Sprache: höhere Gänge). Daher wurden die Vorderräder immer grösser, was zum bekannten „Hochrad“ führte. Dessen Ära hielt jedoch nicht sehr lange an, wohl wegen der Gefahr, von hoch oben zu stürzen, was immer wieder zu schweren Unfällen führte. Ein sichere Variante des Radfahrens wurde in den 1880er Jahren in England entwickelt, mit zwei gleich grossen Rädern, einem rautenförmigen Rahmen und einer Pedale zwischen den Rädern am Fuss des Fahrers, die über eine Kette das Hinterrad antrieb (und schliesslich auch geeignete Übersetzungen zuliess). Eine weitere Innovation machte das Fahren schliesslich noch komfortabler und schneller: der luftgefüllte Reifen. Das Fahrrad in seiner heutigen Form war gefunden.
Als im späten 19. Jahrhundert das Fahrrad durch Massenproduktion immer billiger geworden war, so dass sich auch Arbeiter und Handwerker ein solches Gefährt leisten konnte, begann es auch eine wichtige gesellschaftspolitische Rolle zu spielen. Es gab seinen Besitzern einen weit grösseren Bewegungsradius, und damit die Möglichkeit die beengten Wohnstätten in Fabriknähe zu verlassen. In verschiedenen „Arbeiter-Radfahrerbunden“ verbanden sich Arbeiter in ganz Deutschland u.a. zur Artikulation sozialistischer bzw. sozialdemokratischer Ziele. Zum Massenverkehrsmittel wurde das Fahrrad schliesslich in den 1920er Jahren. Als sich ab den 1950er Jahren mit dem Wirtschaftsaufschwung und steigenden Einkommen viele Menschen einen PKW leisten konnten, fand der Fahrrad-Boom ein Ende. Dem Fahrrad hing das Stigma eines „Verlierergefährts“ an. In den 1970er und 1980er Jahren wurde das Fahrrad im Rahmen der Fitnesswelle dann zu einem beliebten Sport- und Freizeitgerät. Erst in den letzten Jahren gewann es wieder an breiterer Bedeutung. In den Grossstädten setzen Städteplaner beispielsweise auf das Fahrrad, um dem zunehmenden PKW-Verkehr und der Luftverschmutzung abzuhelfen.
Unterdessen treten die Vorzüge des Fahrrads immer stärker in den Vordergrund: seine unübertroffene Energiebilanz, seine Umweltfreundlichkeit und seine Gesundheitszuträglichkeit. Diese werden ihm auch in der Zukunft, mehr als 200 Jahre nach seiner Erfindung, eine massgebliche Rolle in der Welt geben. Und wer weiss: Vielleicht wartet ja die ein oder andere ingenieurstechnische Überraschung auf uns. Denn die Physik des Fahrrads könnte noch das ein oder andere Geheimnis vor uns verborgen halten.