100% Strom aus regenerativen Energiequellen schon in 10 Jahren – Die unterschätzte Dynamik exponentiell verlaufender Veränderungen
Im Oktober 2020, mehr als 20 Jahre nach dem Beginn der Energiewende in Deutschland, geschah auf den globalen Kapitalmärkten etwas Bahnbrechendes, und dies fernab von den Augen der Öffentlichkeit. NextEra Energy, das größte US-Unternehmen für Wind und Solarenergien, übertraf den Börsenwert des Ölriesen Exxon und wurde damit zum wertvollsten amerikanischen Energie-Unternehmen. Am 6. November betrug der Börsenwert von NextEra Energy 148 Mrd. US-Dollar, der von Exxon lag bei 136 Mrd. US Dollar. Noch sieben Jahre zuvor war Exxon das wertvollste börsennotierte Unternehmen der gesamten Welt gewesen, doch hat der Energieriese seitdem ca. zwei Drittel ihres Marktwertes verloren, wohingegen NextEra in dieser Zeit fast 300% an Wert dazugewonnen hat.
Dies ist eine eindrucksvolle Manifestation von Seiten der Börse für eine Entwicklung, die sich bereits seit einigen Jahren vollzieht. Angetrieben durch die Konvergenz gleich mehrerer Schlüsseltechnologien, Photovoltaik, Windkraft und Energiespeicherung, in Kombination mit Nanotechnologie und künstlicher Intelligenz steht der Energiesektor an der Schwelle zur schnellsten und tiefgreifendsten Umwälzung der letzten 150 Jahre. Für die allermeisten Ingenieure ist klar: 100% sauberer Strom aus der Kombination von Sonne, Wind und Batterien-Speicherung ist sowohl physikalisch möglich als auch wirtschaftlich erschwinglich. Schon 2030 wird dies für die meisten Regionen in der Welt die billigste Stromoption darstellen. Wie Computer und das Internet die Grenzkosten von Information drastisch gesenkt haben, werden dramatisch sinkende Grenzkosten für regenerativ hergestellten Strom die Weltwirtschaft grundlegend transformieren.
Längst haben technologische Entwicklungen überall auf der Welt ermöglicht, dass regenerative Energien zu einem festen Bestandteil der Energieversorgung werden. Sie taten es lange gegen die Kräfte des Marktes, der in vielen Bereichen immer noch auf fossile Energien setzt, und auch gegen die Prognosen von Experten: Fast alle in den letzten Jahrzehnten gemachten Voraussagen haben das Potenzial der erneuerbaren Energien deutlich unterschätzt. Dass Kritiker der Energiewende und die Vertreter der fossilen Energien das Potential regenerativer Energien unterbewerten, erstaunt nicht, aber oft verkannten auch neutrale Beobachter und sogar ihre Befürworter deren Möglichkeiten.
- Die Internationale Energieagentur IEA erwartete in ihrem World Energy Outlook 2002 einen Anstieg der globalen Kapazitäten der Windenergie bis 2020 auf 100 Gigawatt. Dieser Wert wurde schon nach sechs statt nach 18 Jahren erreicht und 2020 um 20 Prozentpunkte übertroffen. Dieselbe Institution schätzte in ihrem Report von 2015, dass bis 2040 weltweit ein Drittel der Elektrizität durch erneuerbare Energien gedeckt wird. Doch schon fünf Jahre später liegt ihr Beitrag bei fast 30 Prozent und damit nur noch knapp unter von den für 2040 prognostizierten Werten entfernt.
- Die EU-Kommission ging im Dezember 2011 in ihrer Energy Roadmap 2050 von viel zu hohen Kapitalkosten für erneuerbare Energien aus. Für das Jahr 2050 sagte sie Preise von über 1.000 Euro pro Kilowatt-Peak Leistung aus. Schon 2020 liegen die Preise für Photovoltaik-Freiflächen-Anlagen nur noch bei ca. 600 Euro, auch Dachanlagen kosten bereits unter 1.000 Euro pro Kilowatt-Peak Leistung.
- 2011 leiteten der Deutsche Bundestag und der Bundesrat die zweite Phase der Energiewende ein. Das Ziel lautete, den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromproduktion bis spätestens 2020 auf 35 Prozent und bis 2030 auf 50 Prozent zu erhöhen. Tatsächlich wird schon 2020 ein Anteil von über 50 Prozent erreicht.
- 2016 bewirkte der damalige Bundeswirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel – nicht zuletzt als Reaktion auf den massiven Druck von Kohlelobby und Bergbaugewerkschaften – dass acht große Kohlekraftwerke, die eigentlich stillgelegt werden sollten, für vier weitere Jahre in Sicherheitsbereitschaft gehalten wurden. Das entsprechende „Gesetz zur Weiterentwicklung des Strommarktes“ trat am 30. Juli 2016 in Kraft. Die Betreiber wurden dafür von den Stromkunden mit Hunderten von Millionen Euro fürstlich belohnt. Erst im Nachhinein wissen wir: Diese Reserve hat Deutschland gar nicht gebraucht.
Laut Institut für Wettbewerbsökonomik an der Universität Düsseldorf hat die Energiewende die deutschen Stromkunden von 2000 bis 2015 ca. 150 Milliarden Euro gekostet. Davon entfiel der Löwenanteil von knapp 125 Milliarden Euro auf die EEG-Umlage. Diese wird seit dem Jahr 2000 auf den Strompreis aufgeschlagen. Sie lässt sich auch als (Anschub-)Finanzierung des Ausbaus der erneuerbaren Energien sehen. Mittlerweile investieren aber nicht mehr nur die Stromkonsumenten – unfreiwillig – in die Infrastruktur der alternativen Energien, zunehmend tun dies auch Kapitalanleger.
Schon bald könnte es keine aktivistische Politik und staatliche Förderprogramme für grüne Energie mehr brauchen. Kohle-, Gas- und Kernkraftwerke werden im Verlaufe der 2020er Jahre simple aus dem Markt herausgepreist werden. Allein seit 2010 sind die Kosten für die Stromkapazität aus Photovoltaik um über 80% gesunken, die aus Onshore-Wind um mehr als 45 % gesunken, und die Kosten für Lithium-Ionen-Batterien um fast 90%. Viele Menschen unterschätzen die Macht des exponentiellen Wachstum – und des damit einhergehenden exponentiellen Preisverfall, und dies obwohl uns die Digitaltechnologien in den letzten 40 Jahren eine solche Dynamik sehr deutlich vor Augen geführt haben.
Klar ist: Regenerative Energietechnologien werden weiterhin bemerkenswerte Entwicklungen durchlaufen Ihre Kosten werden in den nächsten 10 Jahren mit allergrösster Wahrscheinlichkeit um weitere 70% (PV), 40% (Windenergie) und 80% (Batterien) fallen. Sind die etablierten Energieträger aus Kohle, Gas und Kernkraft bei der Stromerzeugung bei entsprechenden Wetterverhältnissen bereits heute nicht mehr wettbewerbsfähig mit Solar- und Windanlagen, so werden sie es mit dieser Preisdynamik noch viel weniger sein, denn ihre Preise werden eher steigen als sinken. Auch das Problem der Grundlastfähigkeit von Solar und Windenergie, was fossilen und nuklearen Energieträgern heute noch eine gewisse Konkurrenzfähigkeit verschafft, wird durch die Weiterentwicklung batteriebetriebener Kapazität und die Umsetzung einer effizienten Wasserstoff- bzw. Methanol-Wirtschaft entschärft, so dass aus Sonne und Wind erzeugter Strom jeden Tag, die ganze Nacht und über das ganze Jahr hinweg nutzbar ist. Neue Investitionen in fossile Technologien machen dagegen keinen ökonomischen Sinn mehr. Das haben Anleger in Energieaktien begriffen.
Dagegen stehen politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit immer noch unter dem falschen Eindruck, dass es mit Photovoltaik und Wind unmöglich ist, je die Stromversorgung zu 100% zu garantieren. Dies liegt an konventionellen Modelle und Prognosen, die bestehenden Entwicklungen linear fortsetzen, anstatt ihre exponentielle Wachstumsdynamik zu verstehen. Ein breites Unverständnis exponentiellen Wachstums von politischer Seite hat im Übrigen auch eine zeitlich angemessene Reaktion auf die Corona-Krise verhindert, so dass wir mit entsprechenden Massnahmen immer wieder zu spät kamen. Der Wirkungsgrad heutiger Solarzellen liegt bereits bei mehr als 20 Prozent, verglichen mit 15-17% im Jahr 2010. Dies ist eine gewaltige Verbesserung in nur 10 Jahren. Silizium kann nur Photonen eines recht schmalen Frequenzbereichs der Sonnenstrahlung in Strom umwandeln. Um so viel Energie wie möglich aus dem einfallenden Sonnenlicht einzufangen, lassen sich die Ingenieure einiges einfallen: Eine Idee ist, die verschiedenen Halbleitermaterialien übereinander zu legen, so dass ein breiteres Frequenzband genutzt werden kann. Aber auch ganz neu Lösungen bahnen sich an: So wären mit Hilfe von den erst 1993 entdeckten Kohlenstoff-Nanoröhrchen Wirkungsgrade von 80 Prozent denkbar. Dieser Wert liegt nahe am theoretisch maximalen Wirkungsgrad von 95 Prozent, der über das Carnot’sche Gesetz durch den Quotienten der Temperaturen auf der Sonne und der Erde bestimmt ist. Wir sehen: Bei der Solarenergie ist technologisch noch viel Platz nach oben. Dies erklärt, warum die internationalen Anleger, die in die Zukunft anstatt die Vergangenheit oder Gegenwart investieren, NextEra höher bewerten als Exxon.