Wissenschaftler versus Wissenschaft – Gedanken zur Integrität der Forscher

Der wissenschaftlich-technologische Fortschritt wurde über grösste Teile der letzten 300 Jahre euphorisch begrüsst. Man war sich sicher, dass die Welt immer besser werden wird. Erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrten sich die Zweifel an den immer neuen Technologien. Die Wissenschaftler waren immer noch die unbestechlichen Vermittler der Wahrheit – nur fragte man sich, ob die Technologien, die aus ihrem Wissen entstanden, wirklich immer zum Wohl der Menschheit eingesetzt wurden. Zu den am meisten diskutierten Themen gehören bis heute Kernkraft, Atomwaffen und Umweltzerstörung, seit einigen Jahren auch der technologisch-autoritäre Überwachungsstaat. In den 1950er und 1960er Jahren wurde der „verrückte Wissenschaftler“, der eine gefährliche Technologie entwickelt hat, sogar zu einer Kultfigur in Literatur und Film. Diese Zweifel am Schaffen der Wissenschaftler bestanden nicht immer zu Unrecht. Doch ist die Kritik an neuen Technologien heute eher weniger geworden. Wir leben in einem technik-affinen Zeitalter: Auch für Klimaskeptiker, Impfgegner und erklärte Anhänger populistischer Parteien ist Technologie unverzichtbarer Teil des Lebens. Sie schützen ihre Häuser mit Blitzableitern vor Gewittern, verwenden GPS, schlucken Antibiotika und benutzen Computer und Internet. Mehr denn je werden technologische Errungenschaften bereitwillig angenommen.

Auch die wissenschaftliche Methode selbst steht nicht in der Kritik. Niemand würde von sich behaupten wollen, er würde nicht rational und faktenbasiert denken und handeln. Fragt man aber nach der Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaftler, sieht die Sache anders aus. Sie sehen sich mit Vorwürfen wie den folgenden konfrontiert:

  • „Die haben doch nur ihre eigenen Interessen im Sinn, lassen sich kaufen und verkaufen das Volk für dumm.“
  • „Die wissen doch selbst nicht Bescheid und widersprechen sich ständig.“
  • „Das versteht doch kein Mensch, was die sagen.“

Zu den letzten beiden Vorwürfen habe ich bereits einiges geschrieben. Daher hier zum ersten Vorwurf: Die meisten Menschen in Deutschland sind der Meinung, dass der Einfluss der Wirtschaft auf die Wissenschaft zu gross ist. Auf europäischer Ebene ist das Bild nicht anders. So kommt eine 2010 von der Europäische Kommission in Auftrag gegebene Meinungsumfrage zu dem Ergebnis:

„Die Europäer gehen mit großer Entschiedenheit davon aus, dass man nicht darauf vertrauen kann, dass Wissenschaftler bei kontroversen wissenschaftlichen und technischen Problemen die Wahrheit sagen, weil sie zunehmend von den Fördermitteln der Industrie abhängig sind.“ [[1]]

Das bedeutet: Im Wesentlichen vertrauen Menschen der Wissenschaft, unterstellen aber den Wissenschaftlern Eigennutz und Interessenskonflikte. Schauen wir uns diesen Vorwurf etwas genauer an: „Die Wissenschaftler sind bezahlt!“ Dies erweist sich bei näherer Betrachtung als eine Banalität: Auch Forscher müssen Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen, sie sind also immer „bezahlt“. Die Frage ist: Wer bezahlt sie?

  • Der Staat: Dass die meisten Forschungsbetriebe hierzulande staatliche Einrichtungen sind, hat sich für unsere Gesellschaft als sehr hilfreich erwiesen. Politik hat die Aufgabe, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu definieren und Steuergelder entsprechend anzuwenden. Kontrolliert wird sie in Demokratien durch die Bevölkerung selbst. Was uns blüht, wenn ein totalitärer Staat den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt steuert, zeigt das Beispiel China, wo digitale Technologien zur Überwachung und Unterdrückung der Bevölkerung eingesetzt werden. Doch auch in Demokratien kann ein unkontrollierter Staat, z.B. in militärischen Geheimprojekten, Unheilvolles entwickeln, wie das Beispiel des amerikanischen Atombombenprogramms im zweiten Weltkrieg, das „Manhattan Projekt“, gezeigt hat. Transparenz und öffentliche Kontrolle der Wissenschaft – und entsprechend die staatliche Bezahlung der Wissenschaftler – sind also sehr wichtig.
  • Unternehmen. Das Zusammenwirken von Unternehmergeist und wissenschaftlicher Kreativität hat in den letzten 200 Jahren eine enorme Wohlstandsvermehrung ausgelöst. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts haben Eisen- und Stahlbarone einen gewaltigen Mehrwert erzeugt, sich dabei zugleich aber auf Kosten einer verelendenden Arbeiterschaft und ohne Einsicht in die Notwendigkeit von Sicherheitsvorkehrungen und bereits damals ohne Rücksicht auf die Umwelt In ihrem Gewinnstreben übergehen Unternehmer immer wieder ethische Richtlinien oder gar geltendes Recht, auch und gerade, wenn es um den Einsatz und die Kommerzialisierung ihrer Produkte und Technologien geht. Wissenschaftler sind an solchem Vorgehen nicht selten beteiligt, sei dies mit Gefälligkeitsgutachten oder aufgrund fehlender Transparenz ihres Schaffens gegenüber der Öffentlichkeit.

Zum rationalen Denken gehört auch das Hinschauen. Wie gehen wir mit möglichen Eigeninteressen und Interessenkonflikten der einzelnen Wissenschaftler um? Es gibt Fälle, in denen einzelne Wissenschaftler „Auftraggeber-freundliche“ Ergebnisse lieferten oder sogar bewusst wissenschaftliche Ergebnisse fälschten, um persönliche Vorteile zu erlangen. Beispiele sind Studien von Pharmafirmen zur Wirksamkeit von Medikamenten, von Tabakkonzernen zur Unbedenklichkeit des Rauchens, von Energieforschern zum Nutzen der Kernkraft oder dem angeblich geringen Einfluss von Kohleverbrennung auf unsere Umwelt oder von Banken, die mit entsprechenden Auftragsstudien und Stiftungsprofessuren versuchen, die Risiken der globalen Kapitalmarktarchitektur herunterzuspielen. Solche Fälle werden von Wissenschaftsskeptiker und Populisten als Beleg dafür verwendet, dass der Wissenschaft insgesamt nicht zu glauben ist. Doch wegen einzelner Fälle den Wissenschaftlern grundsätzlich das Vertrauen zu entziehen, entspricht einem klassischen Kategorienfehler. Viel mehr müssen wir solche Fälle öffentlich transparent machen.

Natürlich haben Wissenschaftler auch nicht-kommerzielle persönliche Interessen, die ihre Glaubwürdigkeit oder gar Integrität in Frage stellen können: Karriere, Reputation, Förderung des Egos, etc. Wer das Verhalten des grossen Isaac Newton in seiner Auseinandersetzung mit Gottfried Wilhelm Leibniz um die Urheberschaft der Infinitesimalrechnung anschaut oder Galileis Reaktion auf Keplers Ellipsen, weiss, dass dies kein neues Phänomen in der Wissenschaft ist. Dass einzelne Wissenschaftler persönliche Motive haben, Fehler nicht zugeben können und auf ihrem Irrtum beharren, stellt aber nicht die Wissenschaft als Methode in Frage. Dies zu schlussfolgern, entspräche einem weiteren Kategorienfehler. Wer betrachtet, wie heftig in der Wissenschaft auch über scheinbar klare Ergebnisse gestritten wird, der wird dies schnell erkennen. Ein Beispiel ist das Experiment LIGO zum Nachweis von Gravitationswellen (für welchen die Betreiber 2017 sogar den Physik-Nobelpreis erhielten): Trotz grossem Enthusiasmus unter den beteiligten Wissenschaftlern, klarer Erwartungshaltung aufgrund einer unumstrittenen theoretischen Grundlage (allgemeine Relativitätstheorie) und starker empirischer Evidenz in den Daten ziehen einige – sehr redliche und kompetente – Wissenschaftler die Ergebnisse in Frage, so dass sich die LIGO-Experimentatoren dieser eben noch nicht 100% sicher sein können. In dieser Diskussion hat sich auch gezeigt, dass die Experimentatoren nicht ausreichend genau gearbeitet – oder ihre Ergebnisse schlecht kommuniziert – haben. Genau hier wirkt die Kraft der wissenschaftlichen Tugenden der Skepsis und des Beharrens auf klare Empirie (anstatt dogmatischer Festlegung, wie es sein sollte) auf sehr gesunde Weise. Wer sich als Laie die Mühe macht, sich dies mal genauer anzuschauen, dem bieten sich dazu reichlich Möglichkeiten. Aber das ist natürlich weit mühsamer, als einfach pauschal auf die Wissenschaftler und die Wissenschaft zu schimpfen.

[1] https://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/archives/ebs/ebs_340_en.pdf, Seite 19.

 

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