Wissenschaft und Spiritualität – von Unterschieden und Gemeinsamkeiten

Geht es um tieferes Wissen oder bedeutungsvolle Erkenntnisse, eine erfolgreiche Lebensgestaltung oder gar Weisheit, haben die Naturwissenschaften in der öffentlichen Wahrnehmung heute einen eher schweren Stand. Wer nach Lebensfreude, Gelehrtheit und Einsicht in das Geheimnisvolle der Welt sucht, wird eher in Büchern über östliche Weisheiten stöbern, als sich ein Lehrbuch der Physik oder Biologie zu Gemüte zu führen. Viele lesen dann lieber „Das Tao der Physik“ als „Die Physik“, lieber über quantenphilosophische begründete Spiritualität oder Quantenheilung als über die Aussagen der Quantenphysik selbst. So applaudieren viele Menschen (mit gutem Recht), wenn buddhistische Lehrer formulieren, dass das Ziel eines spirituellen Lebens sei, Leiden zu vermindern, Freude zu finden und die Natur unseres Geistes zu erfassen. Zugleich führt aber die Bemerkung, dass sich die Wissenschaft seit ihrer Begründung genau diese Dinge ebenfalls zum Ziel gemacht hat (und dabei Bedeutenderes erreicht hat), bei den meisten Zeitgenossen bestenfalls zu einem müden Schulterzucken, zumeist jedoch zu heftigem Widerspruch bis hin zur Anschuldigung der Ignoranz in Anbetracht all der globalen Probleme, die doch die Wissenschaft verursacht hat. Oder er oder sie wird gar als ‚schnöder Materialist‘ bezeichnet, der nun auch die Sphäre höchster geistiger Erkenntnisse der Kälte wissenschaftlicher Rationalität aussetzen will.

Tatsächlich hat die Wissenschaft das menschliche Leiden wohl stärker vermindert als kaum eine andere Geistestradition zuvor – auch wenn viele Menschen erst der unerträglichen Schmerzen einer Zahnwurzelinfektion mit der gleichzeitigen Vorstellung, sie lebten in einem Kloster des 13. Jahrhunderts, bedürfen. um dies gänzlich zu erfassen. Stellen wir uns doch nur einmal vor, ein Zeitreisender aus dem Jahr 1916 träfe in unserer heutigen Zeit ein. Er sähe Düsenflugzeuge, Hochgeschwindigkeitszüge, sophistizierte globale Verkehrssysteme, Fernseher, Computer, Mobiltelefon, Transistorradio und andere elektronische Massenkonsumgüter, Kunststoffe, Atomenergie, Laser, das Internet, synthetische Stickstoff-Dünger, Antibiotika, Organtransplantationen, bildgebende Verfahren in der Medizin, Gentechnologie und vieles mehr, was heute längst zum Alltag gehört und unsere modernen Lebensbedingungen bestimmt. Der Zeitreisende hingegen sähe in all diesen Dingen Wunder und Zauberei am Werk.

Zugleich ist die Freude an der Erfassung des Geheimnisvollen und dem Wissen über die Gründe des Weltdaseins wohl kaum irgendwo anders so gross wie in der Naturwissenschaft. Auf zutiefst beglückende Art und Weise befriedigt sie unsere nur allzu menschliche Neugier. Wissenschaftliche Erkenntnisse erlauben uns tiefe (wenn auch nicht endgültige) Einsichten in die Natur der Dinge oder die unseres Geistes und nicht zuletzt in die tiefste aller Fragen, die der englische Naturalist Henry Huxley bereits 1863 wie folgt formulierte: „Die Frage aller Fragen – das Problem, welches allen übrigen zugrunde liegt und welches tiefer interessiert als irgend ein anderes, ist die Bestimmung der Stellung, welche der Mensch in der Natur einnimmt, und seiner Beziehung zur der Gesamtheit aller Dinge.“

Dennoch scheinen sich Wissenschaft und Spiritualität heute als Gegenpole unversöhnlich gegenüber zu stehen. Die Auflösung traditioneller Denk-, Lebens- und Glaubensformen führt zu einer zunehmenden Verunsicherung und Orientierungslosigkeit in einer modernen Gesellschaft, welche einerseits den Individualismus predigt, andererseits ohne das Gemeinschaftliche ihren Halt verliert. Und durch zunehmende und sich in den nächsten Jahren wohl noch weiter verstärkende Digitalisierung, Nano- und Quantentechnologisierung, Neurologisierung, Biologisierung und anderen ‚-sierungen‘ mitsamt ihren technologischen Möglichkeiten erleben wir einen historischen Umbruch, der unser Menschenbild, sowie unser Sinn- und Daseinsverständnis massiv verändern könnte. Dies betrifft natürlich auch unser spirituelles Selbstverständnis. Zugleich öffnet die moderne Wissenschaft neue Problemfelder. Spätestens mit der Atombombe verlor die Physik ihre ethische Unschuld, was der Chemie mit der Entwicklung von Giftgaswaffen bereits dreissig Jahre zuvor im Ersten Weltkrieg widerfahren war. Und geht es um Fragen der Genmanipulation, Stammzellenforschung, künstlichen Intelligenz oder der Herstellung synthetischen Lebens, sehen heute auch viele nicht-religiöse Menschen in der modernen Biologie und Informationswissenschaften moderne Varianten des Goethe’schen Zauberlehrlings am Werk. So nehmen wir die Herausforderungen unserer modernen Welt immer mehr als Krisen wahr und fragen desperat nach kohärenten globalen ethischen Reaktionen auf Dinge wie Umweltzerstörung, Klimaveränderung, Überbevölkerung, Nahrungsengpässe, Wirtschaftskrisen und nukleare Bedrohung, allesamt Probleme, die kaum ausschließlich in einem wissenschaftlichem Diskursrahmen behandelt werden können, sondern größerer, auch spiritueller Bezüge bedürfen.

In einem gerade erschienen Buch (Lars Jaeger, Wissenschaft und Spiritualität, Universum, Leben, Geist – Zwei Wege zu den großen Geheimnissen, Springer-Spektrum Verlag, 2017) beleuchte ich verschiedene Dimensionen des Verhältnisses von Wissenschaft und Spiritualität. Ich will sie absichtlich verkürzt mit „Sinn“, „Geschichte“ und „Gestaltung“ bezeichnen. Die Sinn-Dimension bezieht sich auf die großen existentiellen Fragen unseres Lebens, die Geheimnisse, zu denen es sowohl spirituelle als auch wissenschaftliche Zugänge gibt. Dabei zeigt sich dem Betrachter schnell, dass die Beziehung von wissenschaftlichem und spirituellem Denken viele gemeinsame geschichtliche Bezugsfelder besitzt, was dazu führt, dass ein historisches Erfassen dieses Verhältnisses einen geradezu natürlichen und verständlichen Zugang darstellt. Die Bedeutung spiritueller Dimensionen in unserer mehr und mehr durch Wissenschaften geprägten Welt führt uns, so ist zu hoffen, zu einem modernen Spiritualitätsverständnisses, das „nicht klebrig oder kitschig ist und bei der man seine Würde als kritisches, vernünftiges Subjekt nicht verliert“ (Thomas Metzinger). Dieses soll uns zuletzt auch zu einigen wertvollen Schlussfolgerungen bzgl. eines möglichen Gestaltungsrahmens für zukünftige Technologien kommen lassen.

Eine These des Buches ist, dass mit der weiteren zukünftigen wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen Spiritualität gerade in ethischer Hinsicht grosse Bedeutung zukommen wird, wenn wir uns als gesellschaftliches Kollektiv an den mit diesen Entwicklungen verbundenen geistigen und intellektuellen Herausforderungen nicht scheitern sehen wollen. Deshalb erwarten nicht wenige Menschen, dass bei der Beantwortung wichtiger Zukunftsfragen und der Diskussion um die Gestaltung kommender Technologien spirituelles Denken eine bedeutende Rolle spielen muss, im Sinne einer Verantwortung für intellektuelle und ethische Integrität.

Denn die Anfänge eines historischen Umbruchs, im Verlaufe dessen wir nicht nur neue mächtige und atemberaubende Technologien erleben werden, sondern auch den Menschen selbst, seine Biologie, seine Identität und sein Bewusstsein grundlegend verändern könnten, geben sich schon heute zu erkennen. In Anbetracht dessen wird es vermutlich bereits in nicht allzu ferner Zukunft einen Moment geben, in dem sich die Spielregeln des menschlichen Lebens und Zusammenlebens fundamental verändern könnten. Sind wir darauf vorbereitet?

Bei der Diskussion um die Wechselwirkung von Wissenschaft und Spiritualität muss es darum gehen, die Bedeutung beider sowie ihrer Gegenseitigkeit für den Nutzen unseres menschlichen Daseins zu erfassen und mit ihrer Hilfe die Wesenszüge eines humanen und ethisch kohärenten Weltbildes aufzuzeigen. Dabei geht es um zweierlei, spirituelle Motivation (innere Klarheit in der ethischen Ausrichtung und Streben nach Wahrheit) und rationales (wissenschaftliches) Denken. Entgegen weitläufiger Vorstellungen, die Spiritualität mit Obskurantismus in Verbindung bringen, befähigt uns eine Spiritualität wie hier beschrieben zu einer besseren Rationalität und Redlichkeit in unserem Denken und Handeln. Sie wird zu etwas wie einem inneren Kompass, der unserem Geist eine innere Ordnung und Orientierung verleiht, die uns zu einer Autonomie führen, mit der wir uns auf das Essentielle fokussieren können. In der ethischen Erfassung wissenschaftlichen Schaffens und spirituellen Denkens begegnen wir, wie wir es auch immer wenden, einer ihnen beiden gemeinsamen Dimensionen, die für unsere Zukunft von enormer Bedeutung sind. Denn noch einmal: Die zukünftigen technologischen Fortschritt könnten den Menschen und die menschliche Zivilisation in heute noch unvorstellbarer Weise transformieren. Welches sind auf diesem Weg mögliche Leitposten für uns? Auf sie könnte es ankommen.

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