Bewusstseinsveränderungen, Avatare und virtuelle Welten – Von der Manipulationen unserer Geisteszustände bis zur Veränderung unserer phänomenalen Selbstwahrnehmung

Seit Jahren kündigen uns Wissenschaftler und Technologie-Unternehmen den unmittelbar bevorstehenden Durchbruch einer Technologie an, die massive Auswirkungen auf unseren Lebensalltag verspricht: die virtuelle Realität (VR). Firmen wie Facebook und Sony geben Milliarden aus, um den Menschen eine neue Welt vorzuspielen – und dies ist zunächst durchaus wörtlich zu nehmen, denn noch immer stellen Videospiele die Hauptdomäne der Anwendungen von VR-Technologien dar. Doch können wir den Protagonisten der Disziplin diesmal Glauben schenken, so sind die Computer unterdessen schnell genug, und die virtuelle Realität steht nun (endlich) „vor der Tür unseres Alltagslebens“.

Doch lässt sich aus all der (Video-)Spielerei überhaupt etwas ernsthaft Interessantes gewinnen? So manche frustrierten Eltern von videogame-süchtigen Kinder freuen sich vielleicht über die Antwort: Tatsächlich stellt die Erforschung und Entwicklung virtueller Realitäten ein „interessantes Werkzeug, den menschlichen Geist zu erforschen“ dar, so der Neuro-Philosoph Thomas Metzinger. Um genauer zu verstehen, wieso dies so ist, bedarf es eines Blicks auf die moderne Neuroforschung. Denn immer präziser vermögen die Hirnforscher unterdessen zu vermessen, welche Regionen in unserem zentralen Denkorgan für bestimmte Regungen, Gefühle, Reaktionen und Wahrnehmungen zuständig sind, und wie wir in unserem Gehirn die zahlreichen Reize der Innen- und Außenwelt aufnehmen, verarbeiten und zu konkreten Reaktionen werden lassen. Dabei zeigt sich, dass all diese Vorgänge nicht fix vorgegeben sind, sondern sich (teils sogar verhältnismäßig leicht) manipulieren lassen, unter anderem durch das Erzeugen virtueller Realitäten. Mit anderen Worten, unsere Fähigkeiten und die Funktionen des einheitlichen bewussten Erlebens sind nur begrenzt stabil. Diese Erkenntnis führt zu neuen, radikalen Antworten auf die Frage, was unser Bewusstsein und Erleben selbst ausmacht, und wie sich dieses ggfs. beeinflussen lassen.

Wenn wir etwas empfinden, über etwas nachdenken oder etwas unternehmen, sind wir uns bewusst, dass wir es sind, die diese Gefühle haben, diesen Gedanken anhängen oder dieser Tätigkeit nachgehen. Wir verfügen also wissentlich subjektiv über mentale Zustände wie Wahrnehmungen, Emotionen, Erinnerungen und Gedanken und können diese als solche erkennen. Solche bewussten Zustände treten insbesondere dann auf, wenn wir komplexe Informationen über die Umwelt und unseren eigenen Körper mit Erinnerungen früherer Erfahrungen vergleichen und für flexible Verhaltensplanung benutzen. Sie schaffen in uns das Phänomen des Erlebens, d.h. eine an die subjektive Innenperspektive gebundene, als bewusst wahrgenommene, bei uns oft mit einem Ich-Empfinden verbundene Darstellung der Außenwelt, eine mentale Welt im Gehirn, in der wir wahrnehmen, fühlen, denken und planen. Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang von einem „phänomenalen Selbst“. Dass dieses Erleben mitsamt einer Ich-Empfindung keinesfalls selbstverständlich ist, zeigen zahlreiche Beispiele neurologischer Krankheiten und psychischer Ausnahmezustände, beispielsweise Wahrnehmungen unter dem Einfluss von Drogen und Halluzinogenen. Unter Neurowissenschaftlern mehrt sich die Auffassung, dass das „Ich“ nichts anderes als eine − wenn auch von uns nur schwierig oder gar nicht zu erkennende – mentale Konstruktion ist, die von unserem Gehirn erzeugt wird, um selektiv und effektiv Informationen darzustellen und zu verarbeiten (zu „repräsentieren“, wie es die Philosophen ausdrücken). Ein an sich existierendes, irreduzibles „Selbst“ gibt es dagegen nicht. Was es gibt, ist das erlebte Gefühl des „Ich-Seins“ und die ständig wechselnden Inhalte des Bewusstseins von uns selbst.

Wie kommt es dann aber, dass wir dennoch an unserer ureigenen Überzeugung der Konstanz eines ‚Ichs‘ festhalten, dass wir immer der oder die gleiche sind, der oder die all dies erlebt? Es ist tatsächlich eine Meisterleistungen unseres Gehirns, dass wir trotz dieser unaufhörlichen und omnipräsenten Vergänglichkeit den Eindruck haben, immer stets dasselbe Ich zu sein, welches in der jeweiligen Vorstellung eines momentanen „Jetzt“ − also in einer zeitlichen Einheit – lebt und erlebt.

Im Allgemeinen produziert unser Gehirn das, was Philosophen ein „Modell der Welt“ nennen. Mit diesem schafft unser Gehirn zugleich ein Modell unseres Selbst. Der Inhalt eines solchen „Selbstmodells“ ist das bewusste Selbst. Dieses phänomenale (direkt erlebte) Selbstmodel ist also eine interne Repräsentation (ein Modell), welches sich unser Gehirn auf Ebene eines bewussten Erlebens von sich (uns) selbst in einer jeweiligen Umwelt macht. Es konstruiert also ein inneres Bild von unserer Person als Ganzes, inklusive unserer mentalen, psychologischen und sozialen Eigenschaften, welches uns hilft, Informationen möglichst effizient zu verarbeiten, geeignete Vorhersagen zu treffen und in einem sozialen Umfeld zu interagieren. Dies ist es, was uns schließlich sagen lässt „Ich bin“ oder „Ich habe“. Zugleich macht uns unser Selbstmodell zu naiven Realisten: Es lässt uns glauben, dass die Welt bzw. wir wirklich und essentiell so sind, wie das Modell in unserem Gehirn dies repräsentiert. Denn wir vermögen unser Selbst nicht als das Resultat eines solchen Modellierungs- und Repräsentationsvorgangs wahrzunehmen. Doch indem sie soziale Kognition und damit die Entwicklung von kooperativem Verhalten ermöglichen, erlauben erst Selbstmodelle die Bildung der uns bekannten sozialen und gesellschaftlichen Strukturen. Selbstmodelle gestatten somit auch eine evolutionsbiologische Sicht auf ihre Entstehung, indem man sie gerade aufgrund ihrer sozialen Potenz im „kognitiven Wettrüsten“ verschiedener Arten als spezifisch vorteilshaft erkennt. Mit anderen Worten, phänomenale Selbstmodelle gaben unseren Vorfahren große Vorteile im Überlebens- und Fortpflanzungskampf.

Unterdessen lassen sich solche phänomenalen Selbstmodelle auch empirisch und experimentell untersuchen, wie der indische Neuropsychologe Vilayanur Ramachandran bereits vor einigen Jahren in einer Reihe von so einfachen wie verblüffenden Experimenten zeigen konnte. Dabei gelang es ihm, mit Hilfe von Spiegeln Illusionen von Phantomgliedern bei Versuchspersonen auszulösen. Und neuere Experimente zeigen noch viel umfassender, wie sich virtuelle außer-körperliche Erfahrungen erzeugen lassen, indem unser phänomenales Selbstmodell dazu gebracht wird, rein illusionäre Gegenstände in sich zu integrieren, welche damit zu von uns direkt erlebten Teile von ihm werden. Das bekannteste und zugleich wohl einfachste Beispiel eines solchen Experimentes ist die sogenannte „Gummihand-Illusion“ Hier wird unser Selbstmodell einer Versuchsperson dazu gebracht, eine Hand aus Gummi in sich zu integrieren. Die Person identifiziert diese daraufhin als ihre eigene Hand.

Neuroforscher sprechen in diesem Zusammenhang allgemeinen von „virtueller Verkörperung“ (der englische Fachausdruck hierfür ist „virtual embodiment“). Mit geeigneten Setups trennen sich Versuchspersonen in ihrem Selbstbild (Selbstmodel) mental von ihrem biologischen Körper oder Teilen davon und identifizieren sich mit einem künstlichen Körperbild bzw. den entsprechenden Teilen. Der Begriff für ein solches künstliches Körperbild kennen die meisten von uns bereits aus Hollywood-Filmen: „Avatar“. Man könnte dies als Formen außerkörperlicher Erfahrung erkennen, die Menschen auch spontan haben können (und wie sie auch in der mystischen und religiösen Literatur vorkommen). Unterdessen lässt sich bei diesen Prozess auch die Aktivierung entsprechender Neuronen-Verbände nachweisen. Mittels solcher virtueller Verkörperungen in geeigneten Avataren, ggfs. im Verbund mit geeigneten Gehirn-Computer-Schnittstellen, lässt sich das menschliche phänomenale Selbstmodell in vielfacher Weise an künstliche Sinnes- und Handlungsorgane koppeln. Derartige Manipulationen unseres Selbstmodells lassen in der Zukunft zahlreiche faszinierende Anwendungen denkbar werden.

Das phänomenale Selbstbild lässt sich tatsächlich relativ leicht erschüttern, wie psychische Leiden, Hirnverletzungen, Phantomschmerzen, halluzinogene Drogen oder recht einfache Täuschungen unseres Selbstmodells wie die Gummihand-Illusion aufzeigen. Man könnte gar so weit gehen und sagen, dass unser gesamtes inneres Modell von uns selber als einer Ganzheit von virtuelle Natur ist, insofern, als dass es nur aktiviert wird, wenn es gebraucht wird. So lassen sich Menschen in ihrem Erleben in den Körper eines Kindes oder einer sechsarmigen Kreatur versetzen, ihre visuelle Perspektive lässt sich vom Körper trennen oder der eigene Herzschlag sichtbar machen. Dabei wird mit der Zeit nicht nur die Identifikation mit einer Situation oder Person in der virtuellen Welt größer, es verändert sich auch die Wahrnehmung der eigenen Person in der realen Welt. Virtuelle Realitäten können also gewaltige Auswirkungen auf uns selbst und unser phänomenales Selbstmodell haben, auf das Erlebnis unseres eigenen Ichs.

Mittels virtueller Verkörperungen in geeigneten Avataren, verstärkt durch geeignete Gehirn-Computer-Schnittstellen wird sich das das menschliche Selbstmodell in Zukunft in noch umfassenderer Weise verändern, ja sogar steuern lassen. Derartige Veränderungen unseres Selbstmodells und unserer Selbstwahrnehmung könnten schon bald zahlreiche faszinierende Anwendungen möglich machen, lassen aber auch furchterregende Manipulationen denkbar werden. „Die Möglichkeiten, sich schon bald in virtuellen Umgebungen fast wie in der realen Welt bewegen zu können, hat ungeahnte Auswirkungen für unsere Psyche und Selbstwahrnehmung“, sagt Thomas Metzinger und nennt mögliche damit einhergehende Risiken, wie psychologische Manipulationen, Halluzinationen, Persönlichkeitsveränderungen oder die Beeinflussung des Unterbewusstseins, denen in der Öffentlichkeit noch weit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. So wie unsere Gesellschaft bis heute ablehnend auf den Einsatz bewusstseinsverändernder Substanzen reagiert, werden wir entsprechende Reaktionsmuster auch bezüglich virtueller Realitäten testen müssen. „Welche Hirnzustände sollten in der Zukunft legal sein?“ fragt Metzinger konkret. Bisher sind uns solche Szenarien nur aus so bekannten Filmen „The Matrix“ oder „The 13th Floor – Bist du was du denkst?“ (beide aus dem Jahr 1999) als Fiktionen bekannt. Das könnte sich schon bald ändern.

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